Am 2. September 2017 war zum wiederholten Male das Rindlerwahn Autorentreffen, und ich durfte dort einmal mehr einen Workshop halten. Thema: »Der Rote Faden«. Nicht nur in Romanen, sondern Texten im Allgemeinen. Klingt erst einmal eher unspektakulär, hat aber mit Grundlagen der modernen Spannungslehre zu tun, die, wenn richtig umgesetzt, Lesende hoffentlich zu folgender Reaktion treiben:
Kreeeeeiiiiisch, war das eine SUPER Geschichte!!! <3 Wollt ihr so eine Reaktion bei euren Geschichten? Sehr schön, dann lest brav weiter und ich sage euch vielleicht, wie ;)
Wer Hören statt Lesen angenehmer findet, der kann auch die Videoaufzeichnung des Workshops ansehen. Folgende Punkte werden angesprochen:
- Etymologie: Was ist ein »Roter Faden überhaupt«? Wo kommt der Begriff her?
- Textlinguistischer Exkurs: Grundlagen menschlicher Kommunikation und was der Rote Faden damit zu tun hat
- Wie ich einen Roten Faden in meiner Geschichte herstellen kann

Etymologie: Roter Faden
Ein Roter Faden bezeichnet bezeichnet etwas Stringentes, wie eine Spur, einen Weg oder eine Richtlinie. Die Wiktionary-Definition hat mir verraten, dass der Begriff von einem berühmten Autoren stammt. Tatsächlich und ungelogen hat Johann Wolfgang von Goethe erstmals von einem Roten Faden geschrieben. Und zwar in seinen Wahlverwandschaften, 1809:
»Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören.« (Wahlverwandschaften, Teil 2, Kapitel 2)
Bezogen auf dieses Zitat kann man also sagen, dass eine gute Geschichte wie ein gutes Tauwerk ist (in diesem Fall das der englischen Marine) – dadurch stark, dass alles zusammenhält, und alles aufgelöst würde, täte man etwas wegnehmen. Ein schönes Bild absolut stimmiger Vergleich für den »runden« Roman, wie ich finde.
Goethe selbst macht einen literarischen Vergleich in den Wahlverwandtschaften: »Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet.« (Wahlverwandschaften, Teil 2, Kapitel 4) Hier spricht er etwas an, was wir heute als Leitmotiv bezeichnen – »Neigung und Anhänglichkeit« als Thema werden immer wieder bei Ottilie aufgegriffen, was Goethe mit einem Roten Faden gleichsetzt.
Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie prägend Goethe für die moderne Spannungslehre war, wenn sein kleiner Vergleich vom Roten Faden so hohe Wellen schlug, dass er eine gängige Redewendung im Deutschen wurde. Nun stellt sich die Frage: Wie wichtig ist ein Roter Faden für meine Geschichte?
Ich behaupte: Kein Text kommt ohne Roten Faden aus!
Wenn ich »Text« sage, rede ich von Geschichten, Romanen, kurz: Schriftliche Ergüsse, die von jemandem gelesen werden sollen. Der Leser ist auch der Grund, weshalb kein Text ohne Roten Faden auskommen kann. Schreibe ich eine Geschichte, so wird es letzten Endes Lesende geben, was bedeutet: Ich trete mit einem Publikum in Kommunikation.
Nicht nur sprachlich – ich sehe generell Geschichten als Übersetzungsarbeit. Wenn ich eine Geschichte beginne, dann, weil ich überzeugt bin, dass meine Idee GIGANTISCH ist! Problem: Ich muss das irgendwie auf das leere Blatt vor mir übersetzen. Meinen Lesern kommunizieren, was ich im Kopf habe, damit die sagen: Ja, das find ich auch GIGANTISCH! Hier ist richtige Kommunikation das A und O und macht den Unterschied zwischen Geschichten, die »mal so« geschrieben sind, und solchen, wo man merkt, hier weiß der Autor, was er tut.

In der Linguistik gibt es einen eigenen Zweig, der sich mit dieser Form von Kommunikation beschäftigt: Die Textlinguistik. Diese geht davon aus, dass alle Texte (zumindest die romanischer Sprachen, es gibt sicher Ausnahmen) 2 technische Grundlagen benutzen, um Verständnis zu erzeugen. Die laut Dresslers und Beaugrandes Standardwerk »Einführung in die Textlinguistik« wären:
Kohäsion = »die Art, wie die Komponenten des OBERFLÄCHENTEXTES, d.h. die Worte, wie wir sie tatsächlich hören oder sehen, […] miteinander verbunden sind.«
Kohärenz = »Funktionen, die durch die Komponenten der TEXTWELT, d.h. die Konstellation von KONZEPTEN (Begriffen) und RELATIONEN (Beziehungen), welche dem Oberflächentext zugrundeliegen, füreinander gegenseitig zugänglich und relevant sind.«
Das klingt jetzt sehr wissenschaftlich, ist aber recht einfach.
Die Kohäsion sind Grammatik und Worte ohne Subtext. Auf Geschichten und Romane bezogen sind das Handlungselemente und ihre kausalen Zusammenhänge. Z.B. wenn ich in einem Krimi ganz am Anfang eine Figur erwähne, die dann erst wieder nach 400 Seiten auftaucht, hat mein Lesepublikum höchstwahrscheinlich vergessen, wer diese Figur ist. Da die Figur nicht oft genug auftauchte oder ich ihren Auftritt nicht gut genug betont habe, konnte ich dem Leser nicht kommunizieren: Diese Figur ist wichtig, merk sie dir! Die Kohärenz dagegen ist die inhaltliche Bedeutung, das, was in Worte interpretiert wird. Bei Romanen und Geschichten würde ich das als Themen und Subtext bezeichnen.
Im Folgenden ein Textvergleich – der Anfang von Grimms »Rotkäppchen«, einmal Original und einmal so umgeschrieben, dass es weder Kohäsion noch Kohärenz gibt:
»Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.«
vs.
»Jeder hatte ein kleines süßes Mädchen lieb, wenn man es ansah, die Großmutter wusste gar nicht, was sie tun sollte. Einmal verschenkte sie ein Käppchen von rotem Samt, und von da an hieß es Rotkäppchen. Wölfe sind böse Tiere.«
Ihr merkt beim letzten Beispiel: Selbst, wenn man wortwörtlich die Essenz des Textes am Ende betont, stimmen die Zusammenhänge nicht, ist kein Roter Faden gegeben, es gibt keinen Aha-Effekt. Und das sind nur ein paar Zeilen. Liegt dergleichen bei einer Geschichte oder einem Roman vor, hat man mit enttäuschten Lesern zu rechnen. Um das zu verhindern, gehen wir nun ans Eingemachte:
Wie stelle ich einen Roten Faden in meiner Geschichte her?
Stell dir die Frage: Was ist der zentrale Konflikt meines Romans? Wie kann ich ihn in einer zentralen Frage zusammenfassen? Alles, was in der Geschichte passiert, muss mit der Lösung des zentralen Konflikts/ der Beantwortung der zentralen Frage kausal zusammenhängen, damit ein roter Faden gegeben ist.
Achtung! Das bedeutet nicht, dass es in der Geschichte keine Beschreibungen, Atmosphäre und Co. geben darf. Im Lektorat fragten mich Autorinnen mehrmals, warum sie z.B. ein Setting näher beschreiben sollten, wenn das doch nicht wieder in der Geschichte auftaucht und damit nicht wichtig für die Handlung ist. Ganz einfach: Weil es ab und an wichtig ist, die Vorstellung des Lesers zu bedienen (handlungswichtig oder nicht).
Ich persönlich nenne das Kolorit. Je nach Genre erwarten Leser eine gewisse Menge an Beschreibungen, um sich die Welt vorstellen zu können. Phantastische Literatur lebt stark davon, während Krimis nüchterner ausfallen können. Dies ist mehr als alles andere Geschmacks- und Stilfrage. Ich selbst liebe es, Kolorit und Handlung zu verbinden, wie in meinen Galgenmärchen, was bei meinem Leser oft einen Kopfkino-Effekt erzielt.
Link-Tipp: Einen tollen Artikel zum Roten Faden / der zentralen Frage hat Krimi-Autor Marcus Johanus auf seinem Blog geschrieben, wer diesbezüglich weiterlesen möchte.
Die zentrale Frage wäre zum Beispiel bei »Dornröschen«: Wird Dornröschen trotz des Fluches der bösen Fee mit einem Kuss wahrer Liebe erlöst werden?
Ich höre schon die ersten Panikrufe: Aber Nora, so einfach kann ich meine Geschichte nicht zusammenfassen! Eine begründete Angst. Die meisten Autoren werden sich erst um einen (fehlenden) Roten Faden Gedanken machen müssen, wenn die Geschichte schon geschrieben ist und das Feedback der Testleser eher mau ausfällt. Nun kann es durchaus überfordernd sein, aus hunderten von Seiten einen zentralen Konflikt zu extrahieren. Um eben diese Überforderung zu vermeiden, empfehle ich folgende Übung:
Zentrale Frage mit dem Pitch finden
Der Pitch ist die Quintessenz des Romans in idealerweise einem, maximal drei Sätzen zusammengefasst. Er wird oft in Exposés gebraucht, kann aber auch bei Klappentexten helfen. In unserem Fall ist er ideal, um die zentrale Frage zu finden. Dafür muss nur der einsätzige Pitch zu einer Frage umgewandelt werden. Wer mehr zum Pitch erfahren will, kann das bei Annika Bühnenmann von vomschreibenleben.de. Oder aber folgende Anleitung zum Pitch-Finden durchgehen:
Schritt 1: Schreibe die wichtigsten Fakten zusammen – wer ist dein Protagonist, wer dein Antagonist, und was deren jeweiliges Ziel? (Wenn kein Antagonist vorhanden: Was ist die größte Bedrohung für den Protagonisten?)
Schritt 2: Sichte die Fakten und fasse deine Geschichte zusammen. Beginne mit sechs Sätzen, wenn dich drei überfordern. Mit zwölf, wenn auch sechs es tun. Kürze dann von zwölf auf sechs bzw. von sechs auf drei. Lass dir ruhig mehrere Tage Zeit.
Schritt 3: Drüberschlafen und deine drei Sätze zu einem einzigen zusammenfassen. Eventuell ist dieser nicht perfekt und verwendbar – doch die Wahrscheinlichkeit groß, dass du deinen Hauptkonflikt gefunden hast und damit deine Story auf Herz und Nieren prüfen kannst. :-)
Mit der zentralen Frage wisst ihr, worum ihr euren roten Faden spinnen müsst, könnt akribisch durch eure Texte gehen und schauen, ob wirklich alle Handlungspunkte wichtig sind. Dabei werdet ihr bestimmt auf den einen oder anderen inneren Widerstand treffen. Es ist ganz normal, wenn wir Autoren uns nicht sofort von einem Teil unseres Babys lösen können.
Darum habe ich zum Abschluss ein Romanüberarbeitung-Bullshit-Bingo für euch. Ein, zwei Punkte sind völlig im Rahmen, bei mehr wahrscheinlich ein Schnaps und Drüberschlafen angesagt. Denn im Grunde eures Herzens wisst ihr ganz genau, was eure Geschichte an Rotem Faden braucht!
© Nora Bendzko 2017