Dunkelfantastische Traumverarbeitung.
Featured in Schattenflüsterer von Alice Andres (Hrsg.), Benefiz-Anthologie
Leseprobe
Das erste Mal, als ich den Reiter und seine Frau sah, war ich zehn Jahre alt. Keine andere Erinnerung brennt dunkler in mir. Ich war so jung, so unbedarft. Und doch wusste ich sofort, dass ich dem Bösen gegenüberstand.
Der Wald ragte in seiner Dichte um mich auf, dass ich mich im Leib eines lebenden Wesens wähnte. Ich stolperte über Wurzeln und Buschwerk, während ich nach meinen Eltern schrie. Meine Stimme verhallte zwischen den uralten Bäumen, wurde verschluckt, wie ich. Mit jedem Schritt sank ich tiefer in Angst. Ich durfte nicht hier sein. Doch noch größer war die Furcht, meine Eltern hier zu wissen. In diesem Schlund, der meine Albträume spiegelte …
Da sah ich ihn.
Zunächst war es nur ein rotes Glimmen zwischen den Stämmen, das ich kaum wahrnahm. Bis ich erkannte, dass es Augen waren. Rot glühend steckten sie in einem sonst blanken Pferdeschädel. Das schwarze Haar hing in filzigen Strähnen vom Hals herab. Ich sah regungslos, wie das tote und doch nicht tote Tier aus dem Gehölz trat. Der Hals und der Korpus waren von schwarzem Fell bedeckt, die Beine jedoch nur Knochen. Ein Mann ritt jenes unselige Wesen. Seine Kleidung war noch schwärzer als das verbliebene Fell des Rappen, dabei so edel, dass sie eines Fürsten würdig gewesen wäre. Das war aber nicht, was mich in Ehrfurcht versetzte. Er hatte keinen Kopf.
Was tust du hier, Junge? Ich wusste instinktiv, dass das dunkle Echo in meinem Kopf die Stimme des Reiters war.
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung zwischen den Bäumen. Dort schälte sich ein Schatten mit acht Beinen aus der Dunkelheit. Es war ein riesiger Spinnenunterleib, aus dem der nackte Oberkörper einer Frau ragte. Zwischen den langen, schwarzen Haarsträhnen leuchteten acht grüne Augen aus dem Gesicht.
Armes, verirrtes Kind. Ihre Stimme war so unwirklich wie die des Reiters, aber mehr zischend. Wie ein Gift, das sich einem durch den Kopf frisst. Lass es mir, Liebster …
Ich wäre hoffnungslos verloren gewesen, wären nicht weitere Stimmen in meinen Verstand gedrungen: »Pfeifer! Wo bist du?«
Da konnte ich die unsichtbaren Fesseln abwerfen. Ich rannte, ohne zurückzusehen. Dabei hörte ich das Trampeln von Hufen hinter mir, das Rascheln der Spinnenbeine im toten Laub. Die Deckung des Waldes nutzend, huschte ich von Baum zu Baum, schlug Haken, um meine Verfolger zu verlieren. Die Spinnenfrau gab ein unmenschliches Fauchen von sich, als ich aus der Dunkelheit des Waldes ins rettende Sonnenlicht lief.
Lass ihn gehen, hallte die Stimme des Reiters in meinem Kopf nach. Er gehört uns ohnehin.

320 Seiten
ISBN-10: 1537150758
ISBN-13: 978-1537150758
ASIN: B01M3OAHYZ
erhältlich bei amazon als Buch (8,90 €)
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© Nora Bendzko 2016